An meine nie gezeugte Tochter ( Empört Euch endlich)

ML klein

Hallo meine Liebe, viele Jahre hast du mich nun in Gedanken begleitet.
Ich habe dir viel erzählt, Dinge gezeigt. Du bist so geworden, wie ich mir dich ausgedacht habe.
Du bist nie geboren worden.
Es gab keinen Grund dafür, es hat ein einfach nicht sollen sein.
Immer war der Gedanke an dich, meine Ungeborene Schöne, eingehüllt in einen sanften Hauch der Trauer und des Verlustes.

Vor ein paar Tagen war ich bei Freunden zu Besuch.
Ihr Sohn und seine Freundin waren auch.
Er ist ein großer, kräftiger junger Mann, der gerne einmal etwas laut durchs Leben poltert, freundlich und voller Freude.
Sie ist eine pralle junge Frau, pures Leben und Weiblichkeit mit stillem, außerordentlich stabilen ja zum Leben.

Beide sind berufstätig, habe eine gemeinsame Wohnung, in der sie schon einige Jahre zusammenleben.

Natürlich kam irgendwann meine Frage: “Wollt ihr keine Kinder haben?“
„Wollen schon, aber wir wollen ihnen diese Welt so, wie sie ist, keineswegs zumuten.“
Wir haben Angst davor.

Er fing an zu erzählen. Wie es war, als er vor Kurzem arbeitslos wurde. Einfach nur, weil die Zeit für seinen befristeten Vertrag abgelaufen war. Die Wohnung ist nix Luxuriöses, aber ein Verdienst von den zweien geht drauf für Miete und Nebenkosten. Die Freundin braucht das Auto um zur Arbeit zu fahren, eine Stunde hin, eine zurück.

Er hat erzählte von ihrer Angst die sie hatten, wenn er keine neue Arbeit bekommen und das Arbeitslosengeld ausgelaufen wäre.

Hartz4 hätte er keines bekommen, er lebte ja mit der Freundin zusammen. Aber, z.B. Krankenversichert wäre er NICHT gewesen.

Und in solch eine Welt sollen wir Kinder setzen? Was ist, wenn uns das Gleiche noch einmal passiert?

Der laute, freundliche Polterer ist immer leiser geworden beim Sprechen, seine Freundin ist nahe an ihn gerückt, er hat beim Sprechen gar nicht bemerkt, wie er tröstend seinen Arm um sie gelegt hat.

Noch während Zweifel über die Machbarkeit ihrer Wünsche in stille Verzweiflung umschlug, fing die Trauer an, feine Rillen in das Gesicht der Freundin zu weben.

Jawohl, an dich, der du nun nörgeln möchtest: ich weiß, anderen geht es ebenso.
Das macht es umso trauriger.

Und du, der du mir vielleicht sagen möchtest, in anderen Länder sterben Hunderte durch Hunger oder Giftgas.
Ja, da hast du recht, aber das macht es hier keinesfalls besser und heute ist ist diese stille Trauer hier mein Thema.

Und jawohl, es gibt auch viele schöne Dinge und manchmal muss man feiern und lachen bis die Schwarte kracht.
Dann möchte ich weder etwas hören noch ein schlechtes Gewissen haben weil ich lustig bin.
Und ich hasse es, wenn dann jemand mahnend den Zeigefinger hebt und mir sagt, wie schlecht es den anderen geht.

ABER DAS IST JETZT NICHT DAS THEMA!

Wie sagte Stéphane Hessel in seiner vielbeachteten Rede:

„Empört Euch!“

Wir sind so still geworden.

Wir sehen alte Männer durch die Straßen schlürfen. Mit einem Handkarren oder Rucksack sammeln sie Flaschen ein. Einer hat mir mal voller Stolz erzählt, das er von dem Geld endlich seine neuen Zähne bezahlen konnte.
Er hat sein Leben lang gearbeitet und war immer krankenversichert

„Empört Euch!“

Ich weiß von jener Frau die um die Ecke wohnt und oft aus dem Fenster schaut.
Ich weiß, sie ist früher gerne mal essen gegangen mit Freunden.
Ich weiß, das sie trotz ihrer Arbeit so wenig Rente hat, das sie nun eben nur noch aus dem Fenster schauen kann.

„Empört Euch!“

Ich weiß von dem Bekannten, der völlig verzweifelt ist weil er wohl sein Häuschen nimmer halten kann. Es ist einfach alles zu teuer geworden und nun hat er seinen Job verloren.

„Empört Euch!“

Es gibt noch unzählige Beispiele.
Wir sind so reich, niemand bräuchte Flaschen auf der Straße zu sammeln.

Und nein, ich will auch nix hören über die unfähigen Politiker oder die Banker und andere, die sich so schamlos bedienen. Es liegt in der Mentalität der Gierigen, sich zu bedienen ob sie es brauchen oder nicht.
Es liegt an uns, dieser Gier Einhalt zu gebieten

„Empört Euch!“

Liebe unbekannte Tochter die du nie geboren wurdest.
Heute bin ich das erste Mal erleichtert, das du nie geboren wurdest.
Und noch während ich dies schreibe, hat die Trauer tiefe Rillen in mein Gesicht gegraben.

„Wann Empört Ihr Euch?“

Vielen vielen Dank an Monika Linn!